#10 Die starke Frau hinter jedem starken (oder gecancellten) Mann
Die Brooklyn Bridge wurde von Emily Roeblings Mann gebaut. Oder war es umgekehrt? Über starke Frauen hinter starken Männern, schwachen Männern und gefallenen Männern.
Die Gründe, New York zu lieben, reichen aufgeschrieben mindestens 28x Mal um den Erdball. Hier einer von meinen: die Plakette auf der Brooklyn Bridge, die Emily Roebling ehrt. Emily, who this?
Der Mann von Emily* war Washington Roebling, mit dem Bau der Brooklyn Bridge beauftragter Chefingenieur. Leider litt Washington an Dekompressionskrankheit und konnte die Brückenbaustelle nicht mehr selber besuchen. Emily lernte alles, was sie über den Brückenbau und das Ingenieurwesen wissen musste, und vertrat dann ihren Mann vor Ort als Ansprechperson für die Assistenzingenieure. Sie erklärte die komplexen Anweisungen Washingtons und beantwortete Fragen. 1882, ein Jahr vor Fertigstellung der Brücke, verteidigte Emily ihren Mann ausserdem erfolgreich vor dem Verwaltungsrat und dem politischen Gremium - Washington hätte der Titel des Chefingenieurs abgesprochen werden sollen.
In einem seltenen Akt von credit where credit is due wurde Emily auf der 1931 angebrachten Plakette verdankt:
“…whose faith and courage helped her stricken husband…complete the construction of this bridge… Back of every great work we can find the self-sacrificing devotion of a woman”.
(Randnotiz: Emily war bei dieser Heldinnentat noch nicht mal dreissig. Sie wurde nur 40, Washington überlebte sie um 23 Jahre).
Nun ist das Anerkennen und/oder Benennen der Frauen hinter den Männern eine extreme Seltenheit. In jeder Branche gab und gibt es sie, bei den Superstars in Design und Kunst kennt man sie mittlerweile (aber ohne grosse Konsequenzen: die “Corbusier”-Liege basiert zum grössten Teil auf den Zeichnungen von Charlotte Perriand. Im Patentantrag von 1928 stand ihr Name zuerst, gefolgt von Le Corbusier und dem Kollegen Jeanneret. Le Corbusier änderte die Reihenfolge später, bei der Neuauflage 1959 verschwand Perriands Name dann ganz).
Wo gibts mehr dazu zu lesen und sehen?
“Beklaute Frauen” Leonie Schöler geht in ihrem jüngst erschienenen Buch auf solche Schattenschicksale ein. Ein Kapitel widmet sie dem Matilda-Effekt: “Der Matilda-Effekt beschreibt die systematische Verdrängung und Leugnung des Beitrags von Frauen in der Wissenschaft, deren Arbeit häufig ihren männlichen Kollegen zugerechnet wird (…). Benannt ist er nach der US-amerikanischen Frauenrechtlerin Matilda Joslyn Gage, die am Ende des 19. Jahrhunderts dieses Phänomen als Erste allgemein beschrieben hat.” (Wikipedia). In anderen Kapiteln fragt sich Schöler, warum gewisse Frauen keinen Nobelpreis haben, was mit ihnen im Widerstand geschieht und warum manche nicht anders konnten, als unter einem männlichen Synonym zu wirken. WARNUNG: “DAS IST ALLES SO UNFAIR”-FEELINGS GARANTIERT.
Bonnie Garmus’ “Lessons in Chemistry” / auf deutsch “Eine Frage der Chemie” war vor zwei Jahren zu recht DAS Buch in jeder Badi. Es geht darum unter anderem um die Rolle von Frauen in der Wissenschaft in den fünfziger Jahren. In der Zwischenzeit auch auf Apple TV als Serie.
“The Wife” (2017) mit Glenn Close und Jonathan Pryce: did she, or didn’t she? - die Bücher ihres gerade mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneten Mannes geschrieben - ist hier die quälende Frage. Mit Gänsehaut-Performance von Glenn, as per usual.
in meinem Lieblingsbuch des ersten Halbjahres**, Treue von Hernan Diaz geht es ebenfalls um ein Frau im Schatten ihres Mannes. Oder war sie gar nicht in seinem Schatten? Das Buch besteht aus vier verschiedenen Schriftstücken, die sich alle ziemlich unterschiedlich einem New Yorker Financier der 1920er Jahre widmen. Und damit vier verschiedenen Versionen seiner Frau.
Special: Starke Frauen hinter gefallenen Männern
Dass die Stärke der Frau nicht zwingend, vielleicht sogar selten, mit derjenigen des Mannes korreliert, erleben wir immer wieder. Wie es den Frauen von gestolperten, gefallenen, gegancellten Männer geht, erfahren wir hingegen selten. Manchmal im Nachhinein, wenn sich die Frau gelöst hat, wie im Beispiel von Anne Sinclair (deren Ex-Mann Dominique Strauss-Kahn ist).
Diese zwei Bücher und diese Serie gehen (unter anderem) auf die weibliche Perspektive solcher Situationen ein:
In “Service” von Sarah Gilmartin wechselt die Erzählung zwischen drei Stimmen. Dem berühmten Küchenchef Daniel werden sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Die frühere Mitarbeiterin Hannah soll vor Gericht gegen ihn aussagen, und dann gibt es noch seine Frau Julie - die sich dem allen stellen muss, während sie Paparazzi abwendet und die Familie schützt. Der Perspektivenwechsel ist meine Lieblingstechnik in der Fiktion (und vielleicht auch im Leben?) und gelingt hier sehr gut.
Die Netflix-Serie “Anatomie eines Skandals” hat mehrere Schwächen im Plot, stellenweise mit der Darstellung von sexuellen Angriffen und auf der technischen Seite eine etwas arg selbstverliebte Kameraführung. Genügend Stärken machten sie für mich dennoch sehenswert - unter anderem die Auseinandersetzung mit Unterschiedlichkeiten in der Erinnerung. Und wegen Sienna Miller und dem Charakter, den sie darstellt: Sie spielt mit grosser Präzision und Intimität die Frau eines hohen britischen Politikers, dem von einer Mitarbeiterin Vergewaltigung vorgeworfen wird. Sienna Miller war 2005 Opfer einer Phone-Hacking-Attacke, während der öffentlich wurde, dass ihr damaliger Verlobter Jude Law sie betrogen hatte - und wenige Tage später, dass sie schwanger war. Vor wenigen Jahren sprach sie darüber, wie traumatisierend die mehrfache Verletzung ihrer Privatsphäre war.
In “Vladimir” von Julia May Jonas entwickelt eine Literaturprofessorin Mitte 50 eine Faszination für einen deutlich jüngeren, neuen Kollegen am Lehrstuhl. Wichtiges Detail: Ihr Mann, ebenfalls ein Literaturprofessor, deutlich bekannter und erfolgreicher als sie, ist zur Zeit von der Uni suspendiert - ihm werden “unangebrachte” Beziehungen mit früheren Studentinnen vorgeworfen, die Anhörungen werden in einigen Monaten stattfinden. Wie sich diese Situation auf ihr Berufs- und Familienleben auswirkt, ist ebenso interessant zu lesen wie zu erleben, wie sich die Faszination allmählich in eine Obsession wandelt. Mega Bonus: Noch nicht oft habe ich (in der Literatur) eine so detaillierte Nahaufnahme der Innenwelt einer mittelalten Frau gelesen.
* Der geneigten Leser:in ist vielleicht meine Satzwahl aufgefallen. Normalerweise würde wahrscheinlich stehen: “Emily Roebling war die Frau von…” - und dann Scheinwerfer auf den Mann. Was mich zum Abschluss dieses Newsletters bringt, der keiner ist.
Denn der aus meiner Optik mittlerweile relevanteren Version der heute thematisierten Frage - wer steht hinter jeder starken Frau? - gehe ich in einem anderen Newsletter auf die Spur. Oder vielleicht wird ja sogar ein Buch draus.
Happy Samstag allerseits!
** (Oha, man soll das Lese-Halbjahr nicht vor dem Juni-Ende loben, vor allem wenn man gerade mit dem neusten Werk einer Lieblingsautorin begonnen hat, das auch noch ein Lieblingsthema mitnimmt. “Auf allen vieren”, Miranda July, Frauen im mittleren Alter).